Our mascot
Our logo
Samstag, 15.11.2014 – Donnerstag, 26.02.2015

We are tomorrow

Vor 130 Jahren kamen auf Einladung des Deutschen Reichs und der Fran- zösischen Republik am 15. Novem- ber 1884 die Vertreter zehn weiterer europäischer Staaten, der USA und des Osmanischen Reichs zu einem Treffen nach Berlin. Die Berliner Konferenz, Westafrika-Konferenz, Kongo-Konferenz – bis heute gibt es verschiedene Bezeichnungen für jene Tagung, die bis zum 26. Februar 1885 andauerte.

Politiker, Abenteurer, Kolonialenthusi- asten, Kaufleute und Bankiers versam- melten sich in der Wilhelmstraße 77, dem Reichskanzler-Palais als Amtssitz Bismarcks, unweit der repräsentativsten Domizile der Berliner Hochfinanz. Streitigkeiten um Rohstoffe und Ge- biete auf dem afrikanischen Kontinent sollten beendet werden, um der effizienten, systematischen Ausbeutung eine Grundlage nach westlichem, imperialem Rechtsverständnis zu geben. Die Tagung, die in einem zeitgenössischen Zeitungsbericht als „eines der glänzendsten Feste“ geschildert wurde, gab somit den Auftakt zur umfassen - den Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents – ohne dessen Bevölkerung, seine Kulturen und Identitäten, seine Staatssysteme und Wirtschaftsbeziehungen in irgendeiner Form als bedeutsam zu betrachten.

Für den kürzlich verstorbenen nigeri- anischen Autor Chinua Achebe war die Leugnung der Existenz von afrikanischen Menschen und somit afrikanischer Geschichte(n) der Grundgedanke der Kolonialideologie. Auf der Berliner Konferenz ging es Deutschland wie den anderen Kolonialmächten, neben wirtschaftlichen Interessen und Machtansprüchen, vor allem um die Etablierung einer nationalen Identität. Menschen afrikanischer Herkunft wurden nur so weit akzeptiert, wie sie in das nationale Ideengebilde passten. Deutschsein wurde zuallererst mit Weißsein zusammengedacht.

Im kollektiven Bewusstsein ist Deutschlands koloniale Vergangenheit kaum gegenwärtig. Widerstand in den ehemaligen Kolonien wird ebenso wenig thematisiert wie Rekrutierungen von Schwarzen Menschen durch europäische Armeen während der beiden Weltkriege.

Kolonialkriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg, der Nationalsozialismus und noch bis heute rassistisch verfasste Realitäten können nicht nachhaltig aufgearbeitet werden, wenn Deutschlands Kolonialgeschichte als „zu unbedeutend“ abgetan und folglich ignoriert wird. Das Vorhandensein afrikanischer und Schwarzer Menschen und ihrer Perspektiven wird ausgeblendet. Sie scheinen – wie Afrika – weit weg zu sein.

130 Jahre später ist Europa – und da- mit auch Deutschland – jedoch mit der spürbaren Infragestellung staatlicher Grenzen im Zuge vielfältiger Globalisierungsprozesse konfrontiert. Das aus dem 19. Jahrhundert übernommene fiktive Konstrukt eines ethnisch homogenen weißen Nationalstaates lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Menschen afrikanischer Herkunft treten aus den ihnen willkürlich zugewiesenen Räumen heraus und leben neue Realitäten – und das nicht erst seit 2011 auf dem Oranienplatz - in unmittelbarer Nähe des Ballhaus Naunynstraße.

Vor diesem Hintergrund widmet sich das Ballhaus mit We are Tomorrow ab dem 15. November dem Themenschwerpunkt der Berliner Konferenz. Die willkürliche Aufteilung des afrikanischen Kontinents ist Ausgangspunkt für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Künstler_innen und Wissenschaftler_innen aus den verschiedensten Bereichen und Ländern hinterfragen Diskurse kolonialer Vergangenheit und brechen mit gewohnten Erinnerungs- und Darstellungspraktiken. Der Blick zurück schärft die Wahrnehmung für aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen.

Das Ballhaus bleibt somit - nach den Festivals Dogland, Almancı! 50 Jahre Scheinehe, Voicing Resistance und Black Lux. Ein Heimatfest aus Schwarzen Perspektiven – ein Labor für Strategien des Aufbegehrens für eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit postmigrantischen und postkolonialen Lebensrealitäten.

We are tomorrow eröffnet am 15. November mit der Ausstellungsreihe Yesternow. Zwischen Jetset und Vergessen, die von der Künstlerin Manuela Sambo kuratiert wird. Im Anschluss lädt das Pan-African Groove Collective zu einem Konzert ein, dessen Musikstile sich aus so unterschiedlichen afrikanischen und afro-diasporischen Genres wie Afro-Beat, Highlife, R&B, M`Balax, Souk, Jazz, Hiphop und Salsa zusammensetzen.

Film- und Theatermacherinnen wie Branwen Okpako und Simone Dede Ayivi, die bereits am Ballhaus inszenieren, erzählen Schwarze Geschichte(n) als selbstbewusste und selbstbestimmte Kontinuität. So wird zum Beispiel Simone Dede Ayivi mit ihrer Gast-Performance Performing Back zu sehen sein. Sie bereist, begleitet von den Stimmen Schwarzer deutscher Aktivist_innen und Kulturschaffen- der, Orte ehemaliger Völkerschauen, Kolonialdenkmäler und kolonialer Straßengebilde in Deutschland; verrückt diese ganz konkret und (er-)findet ihre eigene postkoloniale Ästhetik auf der Bühne.

Internationale Gastspiele von Performer_innen und Tänzer_innen wie Annabel Guérédrat aus Frankreich/ Martinique, Mmakgosi Kgabi und Stompie Selibe aus Südafrika und Qudus Onikeku aus Nigeria/Frankreich verhandeln deutsche Kolonialgeschichte, indem sie sich die kolonialen Stereotypisierungen ihrer Körper aneignen, in vielschichtige Körpersprachen der Selbstermächtigung übersetzen und diese für das Publikum während ihrer Tanzperformances konkret sinnlich erfahrbar werden lassen.

Der Musiker Jean-Paul Bourelly lädt Besucher_innen zu interdisziplinären Jam-Sessions im Talkshow-Format, den Polyphonic – Spontaneous Town Meetings. Er schafft im Ballhaus einen Ort, an dem das Publikum aufgefordert ist, Fragen zu stellen und zu diskutieren. Seine Musiker_innen nehmen die Diskussionen auf, sodass aus dem Zusammenspiel zwischen Diskussion und Sound, Musiker_innen und Besucher_innen eine neue Form der Kommunikation entsteht.

Zentraler Bestandteil des Themenschwerpunktes ist die erste Indaba Schwarzer Kulturschaffender. Diese Konferenz hat zum Ziel, koloniale Kontinuitäten im Kulturbetrieb zu benennen, Ideen für den Soll-Zustand eines Kulturbetriebes, der sich seiner Vergangenheit stellt, zu sammeln und auszutauschen, um mit klaren Anregungen an Entscheidungsträger_innen der Kulturpolitik heranzutreten. Das Publikum ist hierbei eingeladen, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen – wie an weiteren Artists’ Talks und Paneldiskussionen, die es während der gesamten Dauer von We are Tomorrow geben wird.

Die Möglichkeit von Publikumsgesprächen bieten auch Veranstaltungen wie die von Nadja Ofuatey-Alazard kuratierte Reihe Literarische Topografien des Kolonialismus. Ab dem 16. November werden zudem jeden Sonntag im fsk-Kino am Oranienplatz Filme im Rahmen der Filmreihe Beyond The Maps. African Resistance Against Colonial Power gezeigt, die von Enoka Ayemba kuratiert und gestaltet wird.

Einen der Höhepunkte von We are Tomorrow bildet die Uraufführung von Mais in Deutschland und anderen Galaxien im Februar, einem Stück der in Weimar geborenen Autorin, Songwriterin und Sängerin Olivia Wenzel. Der Text entstand im Rahmen der postmigrantischen Literaturwerkstatt RAUŞ - Neue deutsche Stücke, einer Kooperation zwischen Ballhaus Naunynstraße, Maxim Gorki Theater und dem Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext. Mais in Deutschland und anderen Galaxien beinhaltet unter anderem die Darstellung des Selbstverständlichen – der Selbstverständlichkeit, in Deutschland nicht zuallererst über die Hautfarbe wahrgenommen und eingeordnet zu werden. Regie führt Atif Hussein. Ihn interessiert das Spiegeln gesellschaftlicher Kontexte in fiktiven Biografien, die auch immer die eigenen, ganz persönlichen sein könnten - zwischen Comic und ostdeutschem Punk, auf der Milchstraße oder gesamtdeutschen Transit-Strecken.

Zu konkreten Erinnerungsorten in Berlin führt Joshua Kwesi Aikins die Besucher_innen im Rahmen seiner Bustouren unter dem Titel Dauerkolonie Berlin. Schauspieler_innen von Label Noir begleiten die postkoloniale Stadtführung. Mit ihren Performances hinterfragen sie die Erinnerungspraxis einer Gesellschaft, in der noch immer Denkmäler koloniale Protagonisten ehren.

Das Ballhaus nimmt die Berliner Konferenz als ein Symbol deutscher Kolonialgeschichte wieder auf, um Identitätskonstruktionen aus vielperspektivischen Blickwinkeln zu betrachten und visionär weiterzudenken. Vergangenes wird reflektiert, Heutiges beleuchtet, neue Kommunikationskanäle und zukünftige Handlungsspielräume werden geöffnet.