Von Hakan Savaş Mican
Ich träume von einem Kind. Vielmehr von einem Schwan. Mein Traum fängt so an: Ich bin da am Ufer und versuche die Schwäne zu füttern. Die glücklichsten Morgen dieser Welt sind eins und zeigen sich als eine Gruppe Schwäne auf dem Wasser. Sie kommen auf mich zu. Dann wird das Gesicht eines Schwans dunkler und nimmt die Form eines kleinen Jungen an. Fünf, sechs Jahre alt. Ich muss ihm einen Namen geben: „Du bist der schönste Morgen dieser Welt. Du bist schöner als alle anderen. Schwan! Du bist frei wie eine Wolke. Dein Name ist Jeremy.“
Die Schwäne vom Schlachthof ist eine Suche nach verlorenen Erinnerungen an eine vergangene Zeit, als die Grenzen und Mauern durch Berlin und zwischen den Menschen noch sichtbarer Beton waren. Ohne Pass und Grenzkontrolle kamen in den Osten nur die kleinen Jungen, die zwischen 1966 und 1975 in der Spree ertranken.
Ein alter Journalist ‒ selbst Teil einer Erinnerung ‒ stößt auf seiner Suche nach Antworten zu ihrem Tod auf Facetten von Menschen, Ideologien und Mauern. In Bruchstücken von Erinnerungen wird Geschichte erzählt von Menschen, die Grenzen überschritten haben, mehr oder weniger erfolgreich, von verschiedenen Seiten in verschiedene Richtungen. Doch der Journalist bekommt nur Antworten auf Fragen, die er nie gestellt hat: von den Jungen, die an der Mauer aufgewachsen sind; von der türkischen Kommunistin, die in die DDR floh; vom anatolischen Landarbeiter, der in Berlin zum Geschäftsmann wurde und vom Westberliner Migrantensohn, der sich in eine Ostdeutsche verliebte.
Hakan Savaş Mican wirft in seiner zweiten Arbeit am Ballhaus Naunynstraße einen Blick auf bisher wenig beachtete Aspekte der Geschichte des geteilten Berlin. Seine Figuren bewegen sich zwischen Türkei, West- und Ost-Berlin und zwischen den Zeiten vor und nach der Mauer. Aus Interviews ist ein Stück über innere und äußere Grenzen entstanden, bei der Geschichten anprobiert werden wie Kleider, in der Unschärfe zwischen Traum und möglicher Erinnerung, zwischen Lüge und Wahrheiten.
Eine ganze Generation von Kindern, die die Mauer nicht mehr erlebt haben, ist bereits erwachsen geworden. Erinnerungen erlöschen, auch die der Generationen, die im Schatten der Mauer zu leben hatten. Kindern wie den beiden Jungen, die 1966 und 1975 in der Spree ertranken, widmet sich Hakan Savaş Mican in »Die Schwäne vom Schlachthof« aus postmigrantischer Perspektive. (Der Tagesspiegel)
(…) was Mican, der das Stück auch selbst geschrieben hat, aus den Interviews mit vier real existierenden Personen entwickelt hat und wie er die Erinnerungen an die ertrunkenen Kinder wie surreale Träume zwischen diese Geschichten spinnt, ist spannend, traurig und verrückt ‒ und spiegelt Deutsch-Türken ebenso wie Deutsch-Deutschen die jeweiligen Klischees entschieden zurück. (Michaela Schlagenwerth, Berliner Zeitung)