Ein musikalisches Schauspiel von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu
Ich selbst musste mir meine Freiheit nehmen, sonst hätte ich sie nicht bekommen. Ich war achtzehn Jahre alt, also volljährig und im letzten Ausbildungsjahr zur technischen Zeichnerin, als ich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit allen Mut zusammennahm, um ‒ was ich lange beschlossen hatte ‒ eine Bratwurst zu essen. Bratwürste aßen nur die gavur, die Ungläubigen, denn sie bestehen meist aus Schweinefleisch ‒ und Schweinefleisch ist haram, verboten. Ich bestellte also die Wurst und erwartete, dass mit dem ersten Biss sich entweder die Erde auftat und mich verschlang oder ich vom Blitz erschlagen wurde. Die Wurst war nicht besonders lecker, aber das Entscheidende war, dass ‒ nichts geschah. (Necla Kelek, FAZ, 15.12.2007)
Die wunderbaren Ensemblemitglieder aus München, Köln, Hamburg, dem Schwabenland und Berlin-Zehlendorf, meist leidenschaftliche Wanderer mit Migrationsvordergrund, begeben sich in Lö Bal Almanya auf eine Zeitreise durch fünf denkwürdige Dekaden. Rund 50 Jahre nach dem berühmten Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zeigt dieses musikalische Schauspiel mit verschollen geglaubtem Liedgut und dokumentarischem Material, warum die offizielle Geschichte der Arbeitsmigration in deutschen Landen eine erbärmliche Untertreibung ist.
Sie singen sich die Seele aus dem Leib und reden sich in Rage, um Antworten auf all die wichtigen Fragen zu finden: Warum bekam der millionste Gastarbeiter 1964 ein Moped geschenkt und keinen Feuerlöscher, wie ursprünglich geplant? Ist die Behauptung, die Berliner Mauer wäre auf die Köpfe der Türken gefallen, eine anatolische Lebenslüge? Welches Mindestalter muss ein Moslem haben, um für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen werden zu können? Und woher kommt die Unlust der Kandidaten für die deutsche Staatsbürgerschaft, das geniale Erfolgsrezept der ehrenamtlichen Integrationshelden aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport zu übernehmen?
Bereits seit 2006 arbeiten der Regisseur Nurkan Erpulat und die Kuratorin und Produzentin Shermin Langhoff zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden bisher die Inszenierungen Faked, Jenseits ‒ Bist du schwul oder bist du Türke?, Schattenstimmen und Lö Bal Almanya. Ihr nächstes Projekt, Verrücktes Blut, eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale, befindet sich in Vorbereitung. Zuletzt war von Nurkan Erpulat Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht in Berlin zu sehen, eine Inszenierung im Rahmen von beyond belonging ‒ translokal am HAU und Ballhaus Naunynstraße. Nurkan Erpulat inszenierte in den letzten Jahren neben Berlin u.a. in Hannover, Heilbronn und Linz.