Neue Texte zu Dasein in Deutschland heute, Dasein transnational, Dasein mit Altlasten hier und mitgebracht aus anderen Ländern, mit Weltkriegen auf dem Buckel, mit Wunsch nach Welterneuerung, nach Weltuntergang, nach Bürgerlichkeit und Liebe und der Akzeptanz von andersartigen Lebensformen auf diesem Planeten. RAUŞ- Neue Deutsche Stücke, eine postmigrantische Literaturwerkstatt, entstand in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater und dem Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext.
Wider die Natur! oder die Desintegrationsmaschine
von Juri Sternburg
Der Wissenschaftler Vidar Arsen ist äußerst fett. Er frisst und frisst und frisst die Welt in sich hinein. Denn Essen ist bei ihm Staatsräson. In einem Restaurant mit zwielichtigen Gestalten wie dem Staatsanwalt, dem die Artikulation schwer fällt (kein Wunder, ist er doch mit einem goldenen Löffel im Mund geboren), der undurchsichtigen Rigani Waukeen, die fremd ist und dennoch stadtbekannt, und dem Kellner, der wie ein Satellit um die drei kreist, um Nachschub zu liefern, zieht man sich gegenseitig an oder stößt sich ab, wie elektrische Teilchen. Oben in der Wohnung wartet der kleinwüchsige Butler Göring mit der Desintegrationsmaschine und einem Plan, die Weltgeschichte auf Null zu setzen, um einen Neuanfang starten zu können, fernab von allen Ideologien. Lets get ready to rumble!
mais in deutschland und anderen galaxien
von Olivia Wenzel
Noah und seine Mutter Susanne fahren durch ein Maisfeld auf der Suche nach einer Raumstation, die Susanne endlich auf den Mond schießen wird. Noah hat bei einer Ausschreibung mitgemacht und die Reise für seine Mutter gewonnen. Weil sie doch schon immer weg wollte ‒ damals aus der DDR, dann aus der Psychiatrie, dann aus allen Beziehungen, in denen sie war und am meisten weg von ihm, weg von Noah. Der war mehr ein Plan für ihren Ausbruch als etwas, was bindet. Sie wollte nach Angola, Noah zu seinem Vater bringen und dann weiter. Das sahen die informellen Mitarbeiter anders. Nun sind dreißig Jahre vergangen und das Leben ging weiter. Noah zog aus, er liebte, er jobbte, er wurde Vater, er wollte schon immer einen Comic zeichnen. Susanne verliebte sich in Männer, dann in Frauen, dann vergraulte sie alle. Nun rasen sie durch die ostdeutsche Provinz und Lila springt ihnen vors Auto. Eine junge Frau, die „wunde Punkte liebt“. Und auch sie sucht etwas ‒ ihren überdimensionalen Hund Pozzo, der wächst und wächst und irgendwo auf alle wartet, um sie in einem Hausboot durch das Universum anzuschieben.
Zöpfe ‒ Bepa, Haдежда, Любовь
von Marianna Salzmann
Berlin spricht und aus Berlin sprechen: Wera, Ärztin, Jüdin, Russin, Mutter, Tochter, die schönste Frau der Welt ohne es zu wissen. Ihre Tochter Nadeshda mit den kurzen Haaren, immer einer Whiskyflasche im Gepäck und einem abgetriebenen Kind im Kopf. Konstantin, der Held der Roten Armee, der mal schön war, nun fallen ihm die Haare aus und er terrorisiert Tochter und Enkeltochter ihm einen Haarersatz zu besorgen und ihr Leben endlich in den Griff zu bekommen.
Aus Berlin spricht auch Imran, der kurdische Blumenverkäufer, der bei Wera im Krankenhaus landet, nachdem weder die Polizei noch Bürgerhilfe kommen wollte als Neo-Nazis vor seiner Tür standen.
Aus Berlin spricht John, der Amerikaner, der selber nicht genau weiß, was er in der Stadt macht. Er wollte mal eine Bar aufmachen, jetzt sitzt er in einem Second Hand Shop und passt auf nostalgischen Sowjetmüll auf und nachts läuft er durch die Straßen und sucht Nadeshda. Oder jemand anderes.
Und dann ist auch noch zu allem Überfluss Weihnachten. Bekanntlich eine Zeit, in der alle offiziell ausflippen dürfen – Christen wie Juden wie Moslems.